Hochbegabung bedeutet nicht, dass wir ein Wunderkind haben, das nur Einser schreibt und mit 15 Jahren Abitur machen wird. Vielmehr haben wir ein Kind, dessen besondere Begabung sich individuell ausprägen wird – als Sahnehäubchen und Herausforderung.
In Deutschland gibt es ungefähr 365.000 hochbegabte Kinder mit einem IQ ab 130. Eine Mutter, die mit ihrer Tochter oder ihrem Sohn in einer aufmerksamen Beziehung lebt, wird die Hochbegabung bereits in frühem Alter ihres Kindes bemerken. Ihr Kind spricht gerne und viel. Sein Wortschatz wächst enorm schnell und es bildet ganze Sätze. Es gebraucht selten die „Babysprache“. Komplizierte Wörter verwendet es längst, wenn es in den Kindergarten kommt, und kennt ihre Bedeutung. Ab dem Kindergartenalter beschäftigt es sich mit Zahlen, die es bis weit in den zwei- und dreistelligen Bereich hinein auswendig lernt. Es malt differenzierte Bilder mit wesentlich mehr Details als Gleichaltrige. Sicher fällt Ihnen auch auf, dass Ihr Kind ständig Denksport betreibt. Beim Autofahren zählt es die Automarken. Wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Vierjähriger sich bei den verschiedenen Modellen besser auskennt als Sie oder Ihr Mann. Im Fall einer musikalischen Begabung lernt es so schnell Flöte, dass es die Anfängerhefte schneller durcharbeitet. Seine Lehrerin kann rasch zum Fortgeschrittenenteil übergehen. Vielleicht spielt Ihr Kind schwierige Klavierstücke auswendig, noch bevor es Noten lesen kann. Anspruchsvolle Spiele wie Schach begreift es mit fünf Jahren so gut, dass es bald problemlos gegen erwachsene Spieler gewinnt. Im Urlaub sprechen schon Dreijährige Wörter in fremden Sprachen korrekt nach und wenden sie selbst an.
In der ersten Grundschulklasse liest ein hochbegabtes Kind Bücher auf dem Niveau der dritten Jahrgangsstufe. In der Freizeit verschlingt es Unmengen von Büchern und liest in rasantem Tempo. Ein Buch pro Tag ganz nebenbei ist eine Kleinigkeit für es. Deshalb sollten Sie ihm am besten einen Büchereiausweis besorgen. Sonst haben Sie in kürzester Zeit eine eigene Bibliothek zu Hause. Auch in den anderen Fächern wird Ihr hochbegabtes Kind in allen Grundschulklassen ein kleiner „Überflieger“ sein. Zuhause und im Unterricht fragt es auf einem für sein Alter ungewöhnlich hohem Niveau nach und beschäftigt sich mit Themen, die oft schon den Erwachsenen Kopfzerbrechen bereiten. Später hören Sie am Elternsprechtag oft, dass seine Lehrer erstaunt sind, dass es mindestes zwei Dinge gleichzeitig kann – zum Beispiel schwätzen und dennoch immer die richtige Antwort geben, wenn es aufgerufen wird. Mathelehrer wundern sich oft, wie ihre hochbegabten SchülerInnen oft das Ergebnis vorwegnehmen, noch bevor sie den Rechenweg detailliert behandelt haben. Oft denken sie schneller, als sie schreiben können und gestalten ihre Hefteinträge in „Schnellschrift“, was nicht unbedingt mit „Schönschrift“ zu vereinbaren ist.Ein hochbegabtes Schulkind versteht den Lernstoff meist sofort. Es möchte gleich zur Lösung übergehen oder im Stoff weitermachen. Es arbeitet schlampig bei einfachen Aufgaben. Bei schwierigen Aufgaben arbeitet es auffallend interessiert mit und löst komplizierte Fragen richtig. Es langweilt sich bei Routineaufgaben. Es ist oft ungeduldig oder zu schnell, weil es im Kopf immer schon weit voraus ist.
Das Kind ist sehr selbstkritisch, kritisiert aber auch offensichtliches Fehlverhalten von LehrerInnen. Sein Gerechtigkeitssinn ist sehr ausgeprägt. Es kann auf Erwachsenenniveau gut und schlüssig argumentieren und setzt sich schon für „große“ Themen ein, zum Beispiel für den Umweltschutz oder soziale Belange. Auch körperlich ist das hochbegabte Kind überaus fit. Bereits im Kleinkindalter ist es motorisch sehr geschickt, weil es „mitdenkt“. Die motorische Begabung zeigt sich daher auch später bei vielen Sportarten.
Lesetipp
Wolfgang Schmidbauer: Kassandras Schleier. Das Drama der hochbegabten Frau
222 Seiten, gebunden, erschienen 2013, Orell Füssli Verlag, ISBN 9783280055069
Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat festgestellt, dass vor allem Frauen dazu neigen, die eigene Intelligenz zu verbergen. In seiner Analyse ergründet er die psychologischen Aspekte der verborgenen, traumatisierten Hochbegabung und verwebt diese mit spannenden Analogien aus der psychoanalytischen Praxis und Biographien wie der von Joanne K. Rowling. Ein aufschlussreiches Buch, das zeigt, wie wichtig die wertschätzende Bewußtmachung der eigenen Hochbegabung ist. Wer es gelesen hat, weiß mehr darüber, worauf er bei der Erziehung eines hochbegabten Mädchens achten sollte.
UF/Fotos: CF; Cover mit freundlicher Genehmigung von Orell Füssli Verlag AG