Die Bewegungen des Raqs Sharqi, der „Tanz des Ostens“, tun der weiblichen Seele und dem Frauenleib in jedem Lebensalter wohl. Im alten Orient galten Tänzerinnen als Glücksbringerinnen, wie die Tänzerin Wendy Buenaventura erzählt.
Die Ärztin Barbara erklärt, orientalisch zu tanzen, sei „das Gesündeste, was Frauen für sich tun können.“ In diesem Tanz erfahrene Frauen können es bestätigen. Vielleicht liegt es daran, dass das Kreisen eine kosmische Urbewegung bis in die menschliche Zelle hinein ist? Im Universum kreisen alle Sterne, Planeten und Monde um sich selbst und um andere Gestirne. Unser ganzes Sonnensystem kreist ebenfalls um das Zentrum der Galaxie. Sogar die befruchtete mütterliche Eizelle dreht sich auf ihrem Weg in die Gebärmutter im Uhrzeigersinn (Rakuna und Anotamey: Mütterliches Wissen). Ist eine Drehbewegung erst einmal entstanden, bleibt sie für immer bestehen. Woher sie kommt, ist ungewiss. Fest steht nur, dass es das geheimnisvolle Kreisen seit Anbeginn der Schöpfung gibt.
Eine moderne orientalische Tänzerin begibt sich auf eine Reise in eine authentische Weiblichkeit, was zu Anfang ungewohnt sein kann: „Ich nahm Kontakt mit meinem Becken auf, das erste Zuhause für mein Kind, das es warm, satt und geschützt in sich geborgen und mich zur Mutter gemacht hat. Seine Antwort konnte ich gut verstehen: Es zwickte noch, wenn ich es wiegte, seine Muskeln waren noch verkürzt, so sehr hatte ich als Frau die Zügel angezogen, hatte es „kurz halten“ müssen. Das machte mich sehr traurig, und ich bekam Sehnsucht nach allem, was darin verborgen ist.“
In der Stilform des Baladi drücken wir unsere Gefühle auf vielschichtige Weise aus. Im höfischen Sharqi verdichten wir Bewegung und Energie. Dies verfeinert und
intensiviert den Tanz zugleich. Der ländliche Stil des Raqs Sharqi ist erdig und intensiv. Der Tanz mit einem rustikalen Shaabi- oder eleganten Baladi-Stock stärkt die Zentriertheit in Körper
und Geist. Die Tänzerin bringt ihre natürliche Stärke zum Ausdruck und nimmt eine würdevolle aufrechte Haltung ein. Zusätzlich zu Kreisen und Achten setzt das Becken mit Hüftdrops und -lifts
klare Akzente zur Musik. Sie schulen die Tänzerin darin, bewusst und auf den Punkt Entscheidungen zu treffen. Mit schlängelnden und feinen Arm- und Handbewegungen haben wir vielfältige
Ausdrucksmöglichkeiten, um die isolierten Bewegungen von Becken und Oberkörper zu umrahmen. Der Tanz mit dem Schleier bietet zum einen die
Möglichkeit, sich geheimnisvoll zu verhüllen, zum anderen, mit dem Schleier ausgelassen und spielerisch zu tanzen.
Loslassen und beben
Drehungen sind eine aus der Zentrierung der Tänzerin nach außen gerichtete Bewegung. Der Weg zu langem, gleichmäßigem und schnellem Drehen führt über so manche innere Hürde, wie eine Tänzerin beschreibt: „Beim Drehen wurde mir anfangs immer schwindelig. Zu viel Atem, zu viel Bewegung. Mein Kopf wurde unsicher. Er hatte keine Kontrolle mehr über mich. Meine Füße liefen ihm scheinbar davon. Durch die Erdung meiner Füße und das wachsende Vertrauen fand ich Halt. Fortan gab es keinen Schwindel mehr.“
Beim „Shimmy“ beben die Hüften unter wohligen Energie-Schauern. Jede Tänzerin findet ihr ureigenes Beben, das sich in dieser Schüttelbewegung nach außen entlädt, einmal wie ein Vulkanausbruch, ein andermal wie perlende Wassertropfen.
Alte und neue Frauenkultur
Im Dabke, einem in vielen arabischen Ländern verbreiteten Volkstanz aus Syrien, wecken die mitreißenden Rhythmen die Vitalität und Lebensfreude. Als Gruppentanz stärkt er die Gemeinschaft und schenkt den Tänzerinnen und auch den Zuschauenden viel Kraft. Wenn heute Europäerinnen mit Frauen orientalischer und anderer Herkunft tanzen, knüpfen sie an eine alte Frauenkultur an. Die Vermischung der Kulturen führte bereits in vorchristlichen Epochen zu einem regen Austausch. Die Tanzethnologin und Tänzerin Helene Eriksen studiert in ihrem Projekt „Anar Dana“ mit Frauen in Europa und Nord- und Südamerika traditionelle orientalische Tänze ein und bringt sie mit ihnen auf die Bühne.
Musik ist eine universelle Sprache, weil sie unmittelbar die Seele berührt. Schon die altorientalische Musiktherapie, von Dr. Oruc Güvenc wiederentdeckt, geht darauf zurück, dass das pentatonische Tonsystem sowie die zahlreichen Tonarten (Makame) heilsame Wirkungen haben. Mit dem durchgehenden Rhythmus der Dombra werden rhythmische Prozesse im Leib angeregt. Dazu wird auf der Oud, der arabischen Laute, oder der Schilfrohrflöte Ney improvisiert. In der Vielfalt der klassischen arabischen Musik gibt es wundervolle lyrische oder temperamentvoll-rhythmische Stücke. Doch auch auf moderne Musik lässt es sich mit Wonne orientalisch tanzen. UF
Wendy Buonaventura: Die Schlange vom Nil. Frauen und Orientaltanz
224 Seiten, Neuauflage 2012, Tanz Oriental Verlag, ISBN 9783000373121
Der aktualisierte Klassiker der Tänzerin Wendy Buonaventura gibt einen Überblick über die Entwicklung des orientalischen Frauensolotanzes bis heute. Das Buch enthält eine Fülle wunderschöner Bilder und Fotographien.
Fotos: Mond: mit freundlicher Genehmigung von Dorothee Elfring; Barfuss/Ästestrahlen: CF; Schleiertanz/Drehen by Dorothee Elfring: UF; Gruppe Anar Dana by Chris Yetter: mit freundlicher Genehmigung von Anne George; Cover: Promedia Druck- und Verlagsges.mbH, TANZ Oriental Möhl & Partner GbR
Rosina-Fawzia Al-Rawi: Der Ruf der Großmutter. Oder die Lehre des wilden Bauches
208 Seiten, mit zahlr. Abb., Promedia Verlag, 7. Auflage 2010, ISBN 3853711103
Rosina-Fawzia Al-Rawi ist Arabistin und Ethnologin. Ihre Kindheit verbrachte sie im Irak und im Libanon, sie studierte in Ägypten und Österreich. Seit mehr als zehn Jahren lebt sie in Jerusalem/Al Quds und Wien, wo sie als Bauchtanzlehrerin arbeitet.