Matriarchales Kreta – Insel der Seligen

 

Vor fast fünfzehn Jahren beschrieb Anjana den Zauber der Palastanlage in Phaistos. Als ich in jüngerer Zeit am gleichen alten Tanzplatz mit Freundinnen forschte, lasen wir dort wieder, was sie damals niedergeschrieben hatte, und spürten wie sie: „Wir können das Herz sich erinnern lassen an all die schönen Feste hier voller Blüten und Früchte und Überfluss an Speisen und Getränken. Mit diesem Überfluss waren die Herzen warm und weich, konnten mit allem fließen und auch loslassen. Ein inneres Gefühl von Sicherheit, das wir heute kaum noch kennen, war in den Herzen: dass alles zu einem kommt, was man braucht, dass das Leben schenkend ist.“  

Die matriarchale minoische Kultur

In den Palastanlagen auf Kreta lebten hochentwickelte matriarchale Gemeinschaften - wie inzwischen auch die Schularchäologen wissen. Diese mussten einräumen, dass bisher viele Funde und Ausgrabungen patriachal und daher verkehrt gedeutet worden waren. In Knossos mit mehr als tausend Räumen wurden Bauten sogar falsch rekonstruiert. Die matriarchale Kultur in Kreta bis vor etwa 3500 Jahren wird minoisch genannt, nach einem König Minos, der jedoch nirgends auf Kreta durch Funde nachweisbar ist. Minos war offenbar also nur der Titel für den König im alten Kreta, wobei „König“ bereits wieder dem hierarchischen Denken patriarchal geprägter Kulturen entspringt. Vielleicht war Minos also der unterstützende Mann an der Seite einer Priesterin-Schamanin.  

 

Mitochondrische DNA-Analysen (die mütterliche Linie) ergaben, dass die Minoer offenbar aus Europa stammten. Parallelen finden sich zu den amazonischen Völkern der Skythen - ein griechischer Sammelname für die Völker nördlich des Schwarzen Meers -, bei denen die Priesterin-Königin höchstes Ansehen besaß. Die heutige Stadt Ulm soll zu Zeiten Alexanders des Großen noch von Amazonen regiert worden sein (bis ca. 320 vor u. Z.), die dort ihre spirituelle Praxis in einem Ulmenwald an einer Quelle ausübten. In den kretischen Amazonen-Mythen wird die große Göttin als Leukippe (weiße Stute) und in ihrem schwarzen Aspekt als Melanippe (schwarze Stute) verehrt. Die Darstellung der sakralen, amazonischen Doppelaxt (Labrys) bei Figurinen, in Höhlen oder in der Halle der Doppeläxte in Knossos soll den zu- und abnehmenden Mond symbolisieren– vielleicht die spirituellen Kräfte der Frau im weiblichen Zyklus. Die Doppelaxt taucht auch bei der matriarchalen kretischen Muttergöttin Krataia auf, von der sich der Name Kreta herleitet.  

Die kretische Schlangengöttin

Ein heiliger Schrein der Schlangengöttin wurde im Osten Kretas in Gournia gefunden. Geschätzte 8000 Jahre alte Figurinen zeigen die kretische Schlangengöttin mit nackten Brüsten, die zwei Schlangen in ihren Händen nach oben  hält. Die in Kreta bis heute heilige Schlange verkörpert die weibliche Schöpfungsenergie und die ewige Wandlung. Vielleicht wurde Schlangengift in entsprechender Dosierung dazu verwendet, Trancen und Visionen herbeizuführen? Wurde sie deshalb auch Eilythia - die Wahrheit - genannt? In späterer Zeit wurde sie als Geburtshelferin verehrt.

 

Auf ihrem Kopf trägt die Schlangengöttin eine Rosenkrone, auf der wiederum ein Vogel sitzt, ihre Verbindung zum Himmel. Andere Figurinen bilden sie als weise Frau ab, die im Meditationssitz auf Mutter Erde ruht. Die Schlangengöttin ist eine matriarchale Erdgöttin (auch Pluto genannt), die Tochter der kretischen Erdmutter Rea (Mutter des Berges). Ihre Ursprünge liegen wahrscheinlich noch vor der Errichtung der minoischen Tempel, denn in den Erdschichten darunter wurden noch ältere Bauwerke gefunden. 

Die kretische Schlangenpriesterin

Archäologisch nachgewiesen sind die Schlangenpriesterinnen-Schamaninnen, die irdischen Vertreterinnen der Schlangengöttin, und ihr sakraler Schlangentanz, der Ursprung des orientalischen Frauentanzes. Erst kürzlich wurde ein Grab mit vier Priesterinnen in Orthi Petra entdeckt. Der Schleiertanz geht darauf zurück, dass sich die Schlangenpriesterinnen außerhalb ihres Frauenraums in der Palastanlage verhüllten. Der durch Rhythmus und Tanz erzeugte Alpha-Zustand ist die neurologische Grundlage von erweiterten Bewusstseinszuständen wie Trancen. Wir können uns vorstellen, dass sich eine Priesterin beim Schlangentanz mit der Schlange und der urweiblichen Energie der Schlangengöttin verband und diese in ihren schlängelnden Bewegungen zum Ausdruck brachte. 

Das kretische Labyrinth

Die Höhle war ein Vorbild für das Labyrinth oder vielleicht sogar das Labyrinth selbst. Das Wort Labyrinth (Haus der Doppelaxt) wurde erst viel später verwendet. In der Zeit seiner Ursprünge gab es noch keine Schrift. Überlieferung fand mündlich statt. Die ersten kretischen Hieroglyphen (ca. 2000 – 1700 v. u. Z.) sind teilweise immer noch rätselhaft. Die späteren kretischen Schriften in der Bronzezeit waren mit keiner anderen Schriftart verwandt. Die kretische Schrift wurde an die noch viel weniger entwickelten griechischen Stämme weitergegeben. In den Höhlen Kretas wurden Schüsseln gefunden, in denen sich Milch, Honig, Wein und Pflanzensamen befanden. Diese Gaben wurden vermutlich in einem Ritual zur Kontaktaufnahme mit der unsichtbaren Welt dargebracht.  

Im kretischen Labyrinth ist die kosmische Ordnung dargestellt. Ganz im Gegensatz zum Klischee kann sich niemand darin verirren. Sieben Ringe führen in den Temenos, das Allerheiligste, ein Rückzug in den dunklen Mutterschoß oder den Bauch von Mutter Erde. Das Labyrinth wurde von minoischen Seefahrerinnen bis nach Skandinavien und Großbritannien gebracht, was durch Bernsteinfunde auf Kreta und umgekehrt die bis heute erhaltenen Steinlabyrinthe oder „Troja-Burgen“ in Nordeuropa nachvollzogen wurde. Der minoische Frauenname Elektra bedeutet Bernstein. Die Schlangenpriesterinnen tanzten in den vielen kretischen Höhlen. Beim Kranichtanz führte der Weg ins Innerste des Labyrinths und wieder aus ihm heraus - vielleicht auf einem Einweihungsweg. Der Kranich gilt als eines der ältesten magischen Symbole und ist im Altgriechischen weiblich (Geranos). Nachweise für den kretischen Kranichtanz fanden sich ebenfalls in Knossos. 

Wenn Frauen heute auf Kreta tanzen, vielleicht auch zu Ehren der Schlangengöttin, tauchen sie ein in Erinnerungen an eine matriarchale Zeit, die in unserem Zellgedächtnis gespeichert sind. Und vielleicht hören wir, wie Anjana unter kretischen Ölbäumen uns schon vor fast fünfzehn Jahren zuflüsterte: „Lasst uns wieder im Paradies leben!“

 

Quellen: Die Wissensperlen für meine Matriarchatsforschung auf Kreta fand ich u. a. bei den Autorinnen Luisa Francia und Angelika Aliti. Herzlicher Dank auch an Anjana Mayas, die ihre Kreta-Schätze mit mir geteilt hat. Archäologische Informationen über Kreta fand ich auch in der Dokumentation Terra X „Labyrinthe – Magische Linien von Menschen“. Die Doku „Der mit den Schlangen kriecht“ (ausgestrahlt auf 3SAT am 14. Mai 2018) inspirierte unsere Verbindung mit den Schlangen beim Tanzen. UF/Fotos: UF