Eine Vielzahl von Schülerinnen und Schülern verlieren die Freude am Lernen, obwohl die naturgegebene Neugierde den Menschen von Geburt an dazu bewegt, sich durch Beobachtung, Nachahmung, Fragen und Entdecken die Kompetenzen für ein gelingendes Leben anzueignen – also zu lernen.
Der Frust der Kinder zeigt sich in Form von schlechten Noten, Verspannungen, die sich in Kopf- oder Bauchschmerzen äußern können, oder Angst, die inzwischen vielleicht zu Prüfungsangst geworden ist und zu Verwirrung oder gar Blackout in den Tests führt. Oder es haben sich bereits Muster der Ohnmacht und Minderwertigkeit ausgeprägt. Oder Selbstzweifel tauchen auf. Das Nervensystem eines solchen Kindes braucht vor allem Sicherheit.
Sicherheit im Nervensystem als Basis für Lernen
Der Impuls zu lernen wird Neugierde genannt. Wenn Neugierde auftaucht, ist dies ein Zeichen dafür, dass das Nervensystem reguliert ist. Das bedeutet, der Hirnstamm, unser „Reptiliengehirn“, befindet sich im Zustand der Sicherheit, wie der Traumatherapeut Gopal Norbert Klein erklärt (siehe unter www.traumaheilung.net).
Die erste Voraussetzung für eine optimale Entwicklung des Gehirns ist eine sichere Mutter-Kind-Bindung, die bereits während der Schwangerschaft durch die verbale und nonverbale Kommunikation - zum Beispiel durch Berührung des Mutterleibs und später des Babys - zwischen Mutter und Kind entsteht. Um ein Kind vor einer Traumatisierung zu bewahren, durch die das Nervensystem aus der Balance gerät, sollte es mindestens in seinen ersten drei Lebensjahren nicht von der Mutter getrennt werden. Auch danach ist die sichere Verbundenheit mit der Mutter und einem vertrauten sozialen Umfeld entscheidend für die weitere gesunde Entwicklung. Dies haben sowohl die Bindungs- als auch die Traumaforschung eindeutig nachgewiesen (zum Beispiel in der Arbeit des Entwicklungsbiologen John Medina; siehe auch in Laurence Heller, Aline Lapierre: Entwicklungstrauma heilen).
Eine weitere Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Gehirns ist also, angstfrei lernen zu können. Der Gehirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer sagt: „Lerne ich mit Angst, dann kommt beim Abrufen des Wissens immer auch die Angst mit hervor. Und Angst hemmt Kreativität.“ (Schule & Wir. Die Zeitschrift für Eltern und Lehrkräfte des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst; 1/2016).
Seit der heute in der Selbstregulierung so wirkungsvollen Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen W. Porges, die der Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik 1995 veröffentlichte, wissen wir, dass Stress und Angst ein Zustand sind, in dem sich das Nervensystem befindet. Bei Gefahr und Bedrohung schalten die höheren Gehirnregionen ab, die wir für das Denken und den sozialen Austausch benötigen.
Der Begriff „polyvagal“ bedeutet, dass der Vagus-Nerv, der zentrale Nerv des parasympathischen Nervensystems, zwei Äste mit verschiedenen Funktionen hat (der dorsale und der ventrale Vagus). Der ventrale Vagus reguliert das Nervensystem in einen Zustand von Sicherheit und Verbundenheit. Somit steuert er u. a. unsere soziale Interaktion, unser Social Engagement System. (Siehe hierzu u. a. bei Deb Dana: Die Polyvagal-Theorie in der Therapie).
Die individuelle Unterstützung durch eine Vertrauensperson gibt dem Kind die Sicherheit, gehört und gesehen zu werden und seine Bedürfnisse kommunizieren zu können. Durch diese sogenannte Co-Regulierung entspannt sich sein Nervensystem und der Cortex bleibt „online“. Dr. Helmut Felix Friedrich von der Universität Tübingen erklärt, je individueller der Unterricht auf die Schülerin oder den Schüler abgestimmt sei, desto höher sei die Aufmerksamkeit, Konzentration und Motivation, so dass das Gelernte dauerhaft im Gehirn gespeichert werden kann (Deutsches Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen: Studie „Selbstgesteuertes Lernen – sechs Fragen, sechs Antworten“).
Motivation (Neugier und Begeisterung) wecken wir, indem wir imaginieren, hinterfragen und kreativ werden. Beispielsweise lassen sich mit Assoziationen viele Lücken füllen, wenn den Kindern beim Übersetzen im Satz eine Vokabel nicht einfällt. Sie können auf diese Weise wieder den „Mut zur Lücke“ finden und bleiben entspannt, anstatt in Angst oder Abwehr zu erstarren.
Was ist gehirn-gerechtes Lernen?
Gehirn-gerechtes Lernen geht auf die neurodidaktischen Lern- und Lehrmethoden zurück, die bereits in den 1980er Jahren von Vera F. Birkenbihl aus Amerika mitgebracht wurden. Unter Neurodidaktik werden verschiedene didaktische und pädagogische Konzepte verstanden, die auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften basieren wie zum Beispiel: Unser Gehirn braucht Eindrücke über Klang und Bild, die sogenannten Sinneseindrücke, um sich zu entwickeln.
Forschungsergebnisse der Universität von Maryland erklären, dass Babys davon profitieren, wenn sie Worte hören, die von ihrer Mutter langsam und in einem besonderen Singsang wiederholt werden. Bereits „eineinhalb Jahre später haben Kinder, deren Mütter öfter Worte wiederholen, bessere Sprachfähigkeiten“, erklärt Prof. Rochelle Newman, Leiterin der Abteilung für Hör- und Sprachwissenschaften (in „Journal of Child Language“, zitiert in Vimala Schneider McClure: Babymassage). Warum also plappern Babys ständig vor sich hin? Sie hören sich selbst aktiv zu und lauschen den Lauten und Klängen, die sie hervorbringen. Sie genießen es auch, wenn die Mutter ihre Laute imitiert. Das Sprachzentrum (Broca-Zentrum) liegt in einer höheren Region des Cortex und klickt quasi alle Sinneskanäle gleichzeitig an.
Wenn wir betont Ausformulieren, also sprechen und uns dabei hören, stellt das Verbindungen zwischen dem Cortex und dem Stammhirn her. Neue Vokabeln werden also am besten laut gelernt. Sie sollten aber nicht mit der deutschen oder muttersprachlichen Bedeutung im Hör-Archiv abgelegt werden. Effektiv sind auch die von Vera F. Birkenbihl verwendeten ABC-Listen. Gerade viele Jungen tun sich leichter, wenn sie Vokabeln in „Landkarten“ eintragen. Denn heute ist auch erforscht, dass das weibliche und männliche Gehirn grundlegende neurologische Unterschiede aufweisen. Mädchen und Frauen denken komplexer und vernetzter und haben eine hohe sprachliche Flexibilität, während Jungen und Männer sich mit dem linearen Denken zum Beispiel in knappen, klaren Anleitungen leichter tun (Louann Brizendine: Das weibliche Gehirn; Das männliche Gehirn).
Der französische HNO-Arzt Dr. Alfred Tomatis (1920-2001), der aus einer Opernsänger-Familie stammte, wies bereits vor etwa 60 Jahren nach, dass gutes Sprechen und Singen darauf basieren, dass wir auch unserer eigenen Stimme bewusst gut zuhören. Dies können wir „horchen“ nennen, im Unterschied zum Hören des Ohrs über die Luftschallleitung von außen. Dr. Tomatis fand heraus, dass das Kind bereits im Mutterleib die Mutterstimme über die Knochenleitung (durch jeden Knochen im Körper) hört und ihr aktiv lauscht. So werden bereits beim noch ungeborenen Kind die Nervenbahnen für die Muttersprache angelegt.
Lernprobleme haben nichts mit Intelligenz zu tun, sondern, vereinfacht ausgedrückt, damit, dass Nervenverbindungen nicht richtig verknüpft sind. Die Methode von Dr. Tomatis bestätigte, dass bei Lernschwierigkeiten sogenannte Ersatzverknüpfungen im Gehirn des Kindes aufgebaut werden können. Es hilft also, unser Gehör bewusst einzusetzen, indem wir aktiv horchen oder lauschen. Beim Deklinieren oder Konjugieren können wir also so vorgehen wie beim Lernen einer Liedstrophe - mit Rhythmus und Melodie. Diese kann das Kind dann erinnern oder abrufen, wenn es in sich hineinhorcht. Der bewusste Einsatz der Sinneswahrnehmung bewährt sich daher auch sehr gut bei Kindern mit Legasthenie oder ADS.
Wenn Kinder etwas neu lernen gilt: ganz langsam. Langsamkeit entspricht der langsamen Übertragung der Nervenimpulse, wenn eine Nervenbahn neu angelegt wird (Vera F. Birkenbihl: Trotzdem lernen). Je schneller, desto unbewusster ist der Cortex. Dies merken wir, wenn Reflexe, die vom Stammhirn ausgelöst werden, so schnell sind, dass der Verstand, also der Cortex, keinen Einfluss darauf hat.
Wenn Kinder das Gelernte selbst erklären, und wir sie „spiegeln“, also ihnen Rückmeldung geben, entsteht ihr „Beobachter-Ich“, eine Meta-Ebene im Gehirn, mit der wir unser eigenes Denken nachvollziehen. Das Beobachter-Ich ist eine wertvolle Ressource. Das Kind bekommt die Fähigkeit, seine Antworten oder Lösungen selbst zu überprüfen und Fehler selbst zu erkennen. Dies schenkt ihm Sicherheit in Tests und Prüfungen: „Ich kann mir selbstständig helfen.“
Die Gehirnforschung zeigt auch, dass die Nervenbahnen im Gehirn durch Wiederholung und Anwendung des Gelernten gefestigt und ausgebaut werden. Doch damit ist nicht stures Pauken gemeint, sondern in mehreren kurzen Einheiten zu lernen. Und die Erfahrung zeigt auch, viel übersetzen bringt nichts, sondern einen Satz richtig übersetzen, weil wir seine Struktur begriffen und die darin verborgene Grammatik verstanden haben.
Da auch das Gehirn ein Körperteil ist, liebt es Bewegung. Es springt zum Beispiel sofort an, wenn wir mit ABC-Listen arbeiten. Wenn wir hingegen auf ein leeres Blatt starren, tut sich auch im Gehirn oft eine Leere auf oder die Gedanken springen ungeordnet von einem Thema zum nächsten. Durch das Wandern der Augen entlang des Alphabets, was eine Bewegung ist, fängt das Gehirn an zu feuern und wird „aufgewärmt“.
Jede Bewegung unterstützt daher die Vernetzung der Gehirnzellen. Die Konzentration nimmt zu, weil Stresshormone abgebaut werden können. Wischen und tippen auf dem Handy und der Computertastatur rufen jedoch im Gehirn nachweislich keine dieser positiven Wirkungen hervor, wie der Gehirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer betont (Interview in KenFM: Positionen 18).
Wichtig für die Speicherung des Gelernten im Gedächtnis sind die Ruhephasen, in denen sich das Gelernte im Gehirn vernetzen kann. Im Tiefschlaf werden Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übertragen. Vor dem Schlaf gelerntes Wissen kann morgens besser abgerufen werden kann als im umgekehrten Fall, wenn wir morgens lernen und abends abfragen. Prof. Manfred Spitzer warnt daher vor zu wenig Schlaf oder gestörtem Schlaf durch Smartphone-Nutzung vor allem in den Stunden vor dem Schlafengehen. (Cyberkrank. Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert)
Zur Selbstwirksamkeit finden
Das gehirn-gerechte Lernen kann an den Schulunterricht angepasst werden. Es ist keine isolierte Methode, sondern orientiert sich an der Natur des Gehirns und der individuellen Persönlichkeit. Ein schöner Nebeneffekt besteht darin, dass die Kinder ihr Gehirn und dessen Fähigkeiten entdecken, ebenso wie ihre Sinne - als Helfer, die ihrem Gehirn zuarbeiten. Sie werden zu „Gehirnbenutzern“, wie Vera F. Birkenbihl es formulierte, statt reine „Gehirnbesitzer“ zu bleiben.
Dass jedes Kind individuell lernt, selbst wenn es keine Schule besucht, wird am Beispiel von André Stern deutlich, der vor einigen Jahren das Buch „Und ich war nie in der Schule. Geschichte eines glücklichen Kindes“ geschrieben hat. André Stern ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor geworden. Er beschäftigt sich mit Tanz, Theater, aber auch mit Informatik. Auf die Frage, wie er als Kind gefördert wurde, antwortete er: „Kinder werden nicht müde, solange man sie entdecken lässt, was sie gerade interessiert. Wer hat ihnen die Muttersprache oder das Laufen „beigebracht“? Viele Kinder schreiben oder lesen, bevor sie in die Schule kommen."
Meist fehlt den Kindern nur das Handwerkszeug und die Geschicklichkeit, mit dem erlernten Stoff, ihrem Arbeitsmaterial, richtig umzugehen, so als ob sie eine Sandburg bauen sollten, aber nicht wissen, wie sie die Schaufel benutzen. Wenn Kinder mit gehirn-gerechten Lern-Methoden Ressourcen erwerben, führt dies in vielen Fällen zu sofortigen Aha-Erlebnissen. Die Augen strahlen, und auf einmal sind sie ganz dabei. Sie fangen an, ihr Gehirn selbstständig zu benutzen.
UF/Foto: CF
Das Mütterblitz-Interview mit André Stern finden Sie hier.
Weitere Informationen zur Polyvagal-Theorie und Trauma-Heilung finden Sie unter www.traumaheilung.net