Tatsächlich gibt es moderne Gesellschaften, in denen Mütter eine ganz andere soziale Stellung haben als in den westlichen Gesellschaften. Berichte über einen mütterzentrierten Lebensalltag gibt es kaum. Viele Menschen haben daher nur wenige Kenntnisse darüber. Die Filmemacherinnen Uschi Madeisky und Daniela Parr haben in matriarchalen Völkern gefilmt, den Khasi in Nordindien und den Mosuo in Südchina, wo Mütter ein hohes Ansehen genießen. Ursula Fournier sprach mit Uschi Madeisky darüber, was dieser Perspektivwechsel für uns bedeuten kann.
Uschi, über den Begriff „Matriarchat“ wird viel diskutiert. Es gibt viele Fehldeutungen. Du warst vor Ort und hast ein Matriarchat persönlich kennen gelernt und erlebt. Was ist es denn genau?
Ich habe sogar über mehrere Jahre hinweg viele Monate dauernde Besuche bei den Khasi gemacht. So hatte ich Gelegenheit, mich dort wirklich gut einzufühlen. Wir können deren Lebensform mit dem Hintergrund, wie wir aufgewachsen sind, gar nicht so schnell begreifen und erfassen. Ihre Gesellschaftsstruktur ist auf gar keinen Fall eine „Umkehrung“ unserer Gesellschaftsform, sondern eine gänzlich andere Form des Zusammenlebens. Die Frau hat in matriarchalen Gesellschaften eine ganz andere Position als bei uns, ihre Rolle ist auf keinen Fall mit der Rolle des Mannes bei uns vergleichbar. Es ist nicht so, dass sie „herrscht“ oder nur an sich denkt, sondern sie plant immer für die Gemeinschaft, für die Großfamilie und alle Kinder.
Wie viele matriarchal lebende Völker gibt es heute noch und wie groß sind sie ungefähr?
Es werden ungefähr 200 Völker beschrieben, aber es können noch mehr sein, denn wir entdecken sie erst jetzt bewusst unter diesem Aspekt. Früher wurden sie einfach als „eingeborene Völker“ abgehandelt. Nicht alle sind mit Landwirtschaft beschäftigt. Viele leben in einer ähnlichen Zivilisation wie wir. Matriarchatsforscherinnen besuchen beispielsweise immer wieder die Minangkabau in Sumatra, die PalauerInnen in der Südsee oder die Mosuo in Südchina oder eben die Khasi im Nordosten Indiens. Im Nordosten Indiens gibt es noch mehrere Völker, die zwar unterschiedliche Sprachen sprechen, aber, was die matriarchale Gesellschaftsstruktur betrifft, sich sehr ähneln.
Durch die Matriachatskongresse werden diese Völker jetzt erst präsent?
Die Kongresse haben unter anderem auch bewirkt, dass die Vertreterinnen und Vertreter dieser Völker erkennen, dass sie nicht allein sind, sondern dass es weltweit viele andere Gesellschaften wie die ihren gibt, natürlich mit den jeweiligen kulturellen Besonderheiten. Dadurch erfahren sie eine große Bestärkung und vernetzen sich miteinander. Als vor dreizehn Jahren der Film „Die Töchter der sieben Hütten“ entstand, war Kamtilin, die „Hauptdarstellerin“ in eurer aktuellen Dokumentation, noch ein Kind. Heute ist sie selbst Mutter eines Sohnes und das Clanoberhaupt einer großen Familie. Bei den Khasi wird das Erbe nach dem Tod der Mutter an die jüngste Tochter weitergegeben. Sie verwaltet Grundbesitz und Vermögen und sorgt für alle.
Das erinnert im ersten Moment an die Überlastungssituation einer Mutter im Westen. Was ist dort anders?
Kamtilin ist die jüngste Tochter, die von klein auf überall mit einbezogen wird und in ihre Aufgabe hineinwächst. Sie stützt sich auf die Mutter und deren Mutter und hat konkret und spirituell Rückhalt von ihr und ihren Ahninnen. Sie hat auch eine große Mütterschaft um sich herum, also viele andere Mütter. Dass eine einzige Mutter für alles da sein muss, gibt es dort gar nicht. Sie hat also große Unterstützung und zwar durch alle Altersgruppen. Die Jungen helfen bei bestimmten Aufgaben den Älteren, die wiederum andere Fähigkeiten haben.
In eurem Film sah ich, dass Kamtilin niemals alleine unterwegs ist, egal ob beim Einkaufen oder einem Behördengang?
Bei uns schuftet sich eine Mutter alleine ab. Bei den Khasi kommen auch die Männer mit, einfach nur zur Unterstützung.
Im Film sehen wir auch Gespräche mit den Männern in der Familie von Kamtilin. Sie haben eine andere Rolle als die Männer hier. Was mir auffällt, ist ihr Respekt gegenüber Frauen und dem Weiblichen, also auch gegenüber der Natur. Wie bringen sie ihre männlichen Fähigkeiten in die Familie und die Gesellschaft ein?
Wenn ich von meinen Erlebnissen ausgehe, kann ich erst einmal sagen, die Männer wirken sehr sympathisch. Sie sind bescheidener. Das fällt schon bei den Jungen in der Schule auf. Es gibt auch eine Arbeitsteilung, die Männer übernehmen gewisse schwere körperliche Arbeiten. Auch haben sie nicht die Verantwortung, dass sie eine neue Familie gründen müssen, denn sie gehören immer in den Clan ihrer Mutter. Dort ist ihr Zuhause, ihre Identität. Dort können sie beispielsweise auch als Onkel ihre fürsorglichen Qualitäten für die Kinder ihrer Schwestern einsetzen. Ich möchte hier nicht das Wort „väterlich“ verwenden, denn Vater und väterlich wird hier ganz anders verstanden.
Wie sieht denn die Rolle der Männer als Vater ihrer eigenen Kinder aus?
Heute ziehen die Männer, anders als früher, zu ihrer Frau. Sie unterstützen mit ihrer Arbeit und ihrem Verdienst ihre Herkunftsfamilie und die Familie ihrer Mutter. Aber sie dominieren in der Familie der Frau nicht und verhalten sich sehr respektvoll. Der Mann fühlt sich immer als Gast im Haus der Frau.
Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder ist dort unbekannt?
Für die Khasi sind Kinder die wieder geborenen Ahninnen und Ahnen und werden ganz respektvoll behandelt.
Die Scheidungs- und Trennungsstatistiken und die Isolation vieler Singles, alleinerziehender Mütter oder älterer Menschen zeugen davon, dass das patriarchale Beziehungsmodell scheitert.
Was können wir von den Khasi abschauen?
Wir können uns zuerst vornehmen, die Mütter wieder in den Mittelpunkt zu stellen, und das schon im näheren Umfeld. Die zentrale Beziehung ist die
Mutter-Kind-Beziehung. Wir können in Gemeinschaften leben, in denen jede und jeder seine eigene kleine Wohnung hat, wenn sie möchte. Wir können uns darüber hinaus zusammenschließen. Wir
könnten uns mit einer Art „Vertrag“ zusichern, uns gegenseitig zu unterstützen, während wir unsere Kinder großziehen. Diese Veränderungen können wir auf unser Leben hier gut übertragen. Das
Wichtigste ist, dass Mütter aus der isolierten Stellung herauskommen. Dazu gehört beispielsweise auch, die Verbindung zu den Ahninnen wieder herzustellen.
In unserer Gesellschaft ist es jedoch oft so, dass sogar die Beziehung zur eigenen Mutter getrübt ist.
Dann ist es wichtig, der Mutter dankbar zu sein, dass sie uns geboren hat. Und anzuerkennen, dass wir alle unterschiedlich sind. Das können wir von den Khasi
auch lernen. Obwohl sie in Gemeinschaft leben, lassen sie den anderen oder die andere so sein, wie sie oder er ist.
Auch das Teenager-Alter scheint bei den Khasi nicht so schwierig zu sein?
Filmempfehlung: „Die 40 Tage“- Beginn des Lebens in einem Matriarchat
In der matriarchalen Sippe der jungen Mutter Sadama sind die 40 Tage nach der Geburt ihres Kindes heilig. Den Filmemacherinnen Uschi Madeisky und Dagmar Margotsdotter ist es gelungen, diese heiligen Tage in 40 Minuten zu verdichten. Wir erleben berührende Szenen aus einem guten Leben voll natürlicher Mütterlichkeit, wie es bei den Mosuo im Süden von China seit jeher gepflegt wird.
Der Frauen-Dokumentarfilm „Die 40 Tage“ lässt beim Betrachten die Seele atmen. Auf unspektakuläre Weise geschieht zwischen Sadama und ihrem Kind und ihren Angehörigen so viel Wesentliches, dass ich ihn mir gleich zweimal hintereinander anschaue. Ich folge gebannt ihren alltäglichen Handlungen, wie Mutter und Neugeborenes rundum von den Clan-Mitgliedern versorgt werden. Und dabei sind alle entspannt und fließend aufeinander eingestimmt.
Mit meinen Augen einer Mutter sehe ich, wie die Mosuo die Schätze des ursprünglichen Mensch-Seins und die den Frauen innewohnende mütterliche Kraft bewahren: Die Lebenszeit – und die Selbstbestimmung darüber; die Verbundenheit und Gemeinsamkeit, die Geborgenheit und Raum für die individuelle Entfaltung entstehen lässt, und die Mütterlichkeit als das tragende Element in der Gemeinschaft.
Auf die Frage nach dem Geburtstag ihres Sohnes antwortet Sadama ihrer Freundin, sie zähle die Tage nicht. Ihr Leben verläuft zyklisch – immer wieder schließt sich der Kreis von den Ahnen bis zum
Neugeborenen. Tief bewegt tauche ich mit ein in die Schluss-Szene, als die stolze Urgroßmutter ihren Urenkel zum ersten Mal auf ihrem Rücken hinausträgt ins Dorf, um ihn den Nachbarinnen und
Nachbarn zu zeigen. Vorne weg läuft das mit bunten Bändern geschmückte Huhn und bahnt ihm den Weg als Mittler zwischen den Welten. Die junge Mutter blickt ihnen voll Vertrauen hinterher.
UF/Fotos: Portrait oben: mit freundlicher Genehmigung von Andrea Schlund; Mitte und unten: Uschi Madeisky, tomult & töchter; DVDs „Die 40 Tage“ und „Wo die freien Frauen wohnen. Das Matriarchat der Mosuo“ erhältlich bei www.tomult.de; christel-goettert-verlag.de