Förderung und Bestärkung statt Leistungsdruck

In Frankreich gibt es keine Schulpflicht. André Stern wurde in Paris geboren, wo er heute noch lebt. Seine Eltern Arno und Michèle Stern schickten ihren Sohn nicht zur Schule – aus Überzeugung. Mit dem Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther eröffnete André Stern nun ganz neue Perspektiven für die Akteure der Bildungslandschaft. Mit seinem Vorschlag zum "Zukunftsdialog" landete er dank des großen Online-Zuspruchs unter den zehn Gesprächspartnern, die im September 2012 nach Berlin eingeladen wurden, um mit Bundeskanzlerin Merkel persönlich darüber zu sprechen. Welche Voraussetzungen in Gesellschaft und Familie da sein müssen, damit ein Kind eine glückliche Kindheit erleben kann, erkundete Ursula Fournier mit André Stern in einem außergewöhnlichen Gespräch.

 

Herr Stern, Sie bezeichnen sich als glückliches Kind. Sind Sie auch ein glücklicher erwachsener Mann geworden?

Ich bin weiterhin ein „glückliches Kind“, denn es hat in meinem Leben keine Einteilung wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter gegeben. Ich kenne diese Übergänge nicht, weil mein eigener Rhythmus immer respektiert wurde. Ich glaube, nirgends sonst gibt es diese Gewohnheit wie in unserer Kultur, solche Abschnitte zu sehen. In meinem Leben und in meiner Erfahrung gibt es sie nicht. Deshalb führe ich auch weiterhin eine „glückliche Kindheit“. Darf ich eine Gegenfrage stellen? Was sind für Sie die Merkmale der Kindheit?

 

Ich habe von Anfang an versucht, meine Tochter in keine Schablone wie zum Beispiel „Kleinkind“ zu behandeln. Aber die Einschulung war schon ein „Einschnitt“ in ihre Kindheit. Plötzlich sind die Kinder in ein Zeitkorsett gezwängt. Sie müssen morgens pünktlich sein, auch wenn das gar nicht ihrem Rhythmus entspricht und sie noch gar kein Zeitgefühl haben. In Ihrem Buch erzählen Sie ja auch von Ihrer Mutter, die als Lehrerin bemerkt hatte, dass die Kinder, die vorher viel gemalt haben, plötzlich keine Zeit mehr dafür haben.

Ich musste diese Kindheit nicht verlieren. Kinder sind unvoreingenommen. Sie entdecken die Welt mit weit offenen Augen und saugen die Welt in sich hinein. Sie lassen sie auf sich einwirken, aber ganz unvoreingenommen. Ein Beispiel: Wenn ich einen Stein fallen lasse und er fällt nicht zu Boden, dann würden wir rufen: „Oh, ein Wunder!“. Kinder würden es einfach akzeptieren. Ich wurde immer in dieser Offenheit respektiert. Das ist ein Beispiel, warum ich für mich keinen Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein sehe. Ich kenne diese Abschnitte nicht. Das ist mir völlig fremd, aber ich bin weiterhin ein sehr glückliches, sehr erfülltes, sehr neugieriges Kind, was nicht bedeutet, dass es keine Schwierigkeiten, Hürden, Probleme, Auseinandersetzungen, Meinungsverschiedenheiten usw. in meinem Leben gibt. Zum Beispiel eine schlecht gebaute Gitarre, was eine Katastrophe für mich als Gitarrenbauer bedeutet. Aber das ist für mich kein Gegensatz zu Glück. Schwierigkeiten, Kummer, Traurigkeit und Glück sind für mich alle verbunden. Ich habe nicht nur Schwierigkeiten damit, das Erwachsenensein vom Kindsein zu unterscheiden, aber auch, das Glück vom Unglück. Da ich aber eine glückliche Natur habe, kann ich allgemein sagen: „Ich bin ein glückliches Kind.“ Sie haben mir daher eine für mich doppelt schwierige Frage gestellt. Aber das beleuchtet das Besondere an meiner Kindheit.

 

Herr Stern, vielleicht brauchen Sie deshalb manche Dinge nicht, die Menschen mit einer nicht so glücklichen Kindheit zum Glücklichsein brauchen? Wenn jemand so frei wie Sie geblieben ist, was ist dann „Ihr individuelles Glück“?

Mein Glück ist, dass ich keine Pläne für die Zukunft habe. Ich habe Vorstellungen und Wünsche, aber ich weiß, dass die Dinge immer anders kommen, als man sie plant. Mir ist es wichtiger, offen und aktiv zu bleiben, als irgendwelchen Vorstellungen nachzulaufen. Glück hat immer wieder sehr überraschende Gesichter. Ich lasse mich lieber überraschen, als mir eine Vorstellung davon zu machen, wie mein Glück aussehen soll. Es sind mir so glückliche Dinge passiert, die nicht vorhersehbar waren, und ich bin im Alltag so beschäftigt, dass ich wenig Zeit habe, über meine Zukunft nachzudenken. Ich hätte mir vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass ich heute hier mit Ihnen sitze, dass mein Buch erschienen ist, dass ich geheiratet habe und Vater geworden bin. Das sind unglaubliche Glücksmomente, die ich mir nicht vorgestellt hatte. Wie Glück aussieht – keine Ahnung. Auf jeden Fall „überraschend“.

 

Als Vater werden Sie jetzt sehen, dass man sein ganzes Herz für das Glück seines Kindes gibt, in der Absicht: „Ich möchte, dass mein Kind glücklich ist.“ Aber was ist das überhaupt? Manchmal müssen die Erwachsenen zum Beispiel Grenzen setzen und dann ist das Kind „unglücklich“, weil es etwas nicht darf oder nicht bekommt. Kinder suchen sich beispielsweise aus sich selbst heraus ein Instrument, das sie lernen wollen. Wenn ich diesen Wunsch, der kein Konsumwunsch ist, als Mutter unterstützen kann, bin ich selbst immer ganz glücklich gewesen.

Das ist für mich ein glückliches Kind, wenn es das, was in ihm ist, leben kann. Aber natürlich leben wir alle in einer Umgebung, in der das nicht immer geht. In dieser Gesellschaft stellt man sich meistens vor, dass ein Kind, das nicht zur Schule geht, Analphabet bleibt, asozial wird und nicht glücklich sein wird und keine Freunde haben wird. Oder dass man keinen Job bekommen wird. Ich habe deshalb mein Buch geschrieben, um davon zu berichten, dass das nicht stimmt. (André Stern ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor geworden. Er beschäftigt sich mit Tanz, Theater, aber auch mit Informatik.)

 

Ich glaube, jetzt haben wir lange genug über das Glück gesprochen…

Sie haben danach gefragt, was kann man machen für das Glück der Welt? Keine Ahnung, aber auf jeden Fall neue Paradigmen finden. Denn die alten sind am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt und ich denke, in meinem Buch arbeite ich ein wenig an diesen neuen Paradigmen. Auch Eltern, die gar nicht vor haben, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken, finden darin Stoff für neue Gedanken. Es ist klar, dass nicht alle Familien in der Lage sind, dass ihre Kinder nicht zur Schule gehen. Aber wichtig ist, dass Eltern überhaupt die Möglichkeit dafür sehen oder überhaupt davon erfahren. Es ist mein Anliegen, bekannt zu machen, dass es mehrere Wahlmöglichkeiten und Alternativen zu öffentlichen oder privaten Schulen gibt.

 

Sie geben den Impuls, darüber nachzudenken, ob Kinder nicht viel leichter lernen, wenn sie nicht in ein für alle geltendes Bildungsmodell gezwungen werden, sondern sich nach ihren individuellen Begabungen entfalten können. Sie machen Müttern und Vätern Mut, ihre Kinder nicht unter Leistungs- und Notendruck zu setzen. Wäre das ein Ansatz, auch LehrerInnen anders auszubilden, nämlich darin, die Talente der Kinder ohne ökonomische Gesichtspunkte zu fördern?

Ich freue mich, wenn Lehrer mein Buch lesen und Anregungen darin finden. Ich werde viel von pädagogischen Einrichtungen eingeladen, um von meiner Kindheit zu erzählen. Solange sie meine Geschichte nicht gehört haben, können sie meinen, es geht ohne Schule nicht. Aber wennsie davon gehört haben, geht das nicht mehr. Aber: Ich sage nicht, dass die Schule abgeschafft werden muss. Darum geht es mir gar nicht. Ich habe auch keine neue Methode zu verkaufen, deren Vorzüge ich anpreisen muss. Was ich erlebt habe, ist meine Geschichte und kein Rezeptbuch, das man auf andere übertragen kann.

 

Wir sollten vielleicht noch erklären, dass Sie nicht das sogenannte „Home-Schooling“ meinen, wenn Kinder keine Schule besuchen.

Viele glauben, ein Kind, das nicht zur Schule geht, bleibt zu Hause sitzen und wird nicht von Lehrern, sondern von den Eltern unterrichtet. All diese Vorstellungen sind falsch. Daher ist es wichtig, das zu wissen, weil sich manche Eltern dann vielleicht anders entscheiden würden. Sie brauchen sich nicht selbst viel Wissen anzueignen, das sie dann dem Kind beibringen. Das, was sie sowieso schon wissen, nimmt das Kind zu Hause ganz von selbst auf. Es gibt ungebildete Eltern mit gebildeten Kindern und gebildete Eltern mit ungebildeten Kindern. Ich habe nicht „home-schooling“ erlebt, sondern „un-schooling“. Ich wurde nicht unterrichtet.

 

Was Sie als Kind „abgerufen“ haben, wurde gefördert? 

So ist es! Kinder werden nicht müde, solange man sie entdecken lässt, was sie gerade interessiert. Wer hat ihnen die Muttersprache oder das Laufen „beigebracht“? Viele Kinder schreiben oder lesen, bevor sie in die Schule kommen. Wenn es fähig ist, diese Dinge allein zu lernen, vorausgesetzt man respektiert seinen Rhythmus, wird es die ihm wichtigen Dinge auch erlernen. In dieser Gesellschaft gibt es die komische Angewohnheit, nach Lücken zu suchen. „Wo hast du eine Lücke? Damit du dort, wo die Lücke ist, mehr übst.“ Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich da, wo ich gut bin, noch besser werde. Ich suche nicht das, was ich nicht kann, sondern in dem, was ich kann, noch besser zu werden. Das ist ein beachtlicher Unterschied. Dann lernt man auch gerne oder übt seinen Beruf gerne aus. Ich freue mich, wenn ich bei mir eine „Lücke“ entdecke, weil Lücken freie Räume sind, die mit neuem Wissen gefüllt werden wollen. Ich habe kein Problem mit Lücken.

 

Im Zusammenhang mit Ihrer Geschichte interessiert mich vor allem die Voraussetzung für Ihr schulfreies Leben, die Ihre Eltern geschaffen haben. Als ich in Ihrem Buch die Beweggründe Ihrer Eltern las, Sie und auch Ihre Schwester Eléonore nicht zur Schule zu schicken, war ich sehr berührt. Sie sind wirklich sehr beeindruckende Menschen. Ihr Vater Arno sagt: „Es ist einfacher, sein Leben nicht mit Kindern zu belasten und sie an die Schule abzugeben.“ Er hat es anders gemacht. Damit ist Ihr Vater eine vorbildliche Ausnahme. Welche Haltung hat er in der Familie eingenommen? 

Meine Eltern haben nicht einfach aus einer Laune heraus entschieden, dass ihre beiden Kinder nicht zur Schule gehen. Für meinen Papa war es selbstverständlich.

Welche Impulse können Sie anderen Vätern geben?
Da habe ich einiges zu sagen. Ein Kind auf die Welt zu bringen, ist die Sache eines Paares. Für meine Eltern war es selbstverständlich, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken, bevor sie überhaupt Kinder hatten. Es war für sie auch selbstverständlich, dass sie nach der Geburt ihrer Kinder nicht mehr dasselbe Leben führen werden als vorher. Als Paar sind sie sich also schon mit einer anderen Erwartung und einer anderen Art der Leichtigkeit begegnet. Heute meinen viele, man kann sich ruhig trennen, denn da kümmern sich schon genug Spezialisten um das Kind. Übrigens war mein Vater ein sehr guter Schüler und er und meine Mutter sind beide sehr gerne in die Schule gegangen. Mein Vater war mit seinem Vater sehr verbunden. Und für mich ist mein Vater ein sehr wichtiger Mensch. Ich bin auch nicht erst Vater geworden, als mein Kind auf die Welt gekommen ist, sondern vom ersten Tag an, als meine Frau schwanger war. Allein dieser kleine Unterschied macht einen Unterschied in meiner Haltung als Vater. Ich bin dankbar, dass meine Frau ihre Schwangerschaft mit mir geteilt hat. Und dass in meiner Familie das Paradigma vorhanden ist, dass man sich nicht erst als Vater fühlt, wenn das Kind da ist.

 

Sehr außergewöhnlich empfinde ich auch die Einstellung Ihrer Mutter Michèle, die selbst als Lehrerin gearbeitet hat. Ich möchte jedem ans Herz legen, was sie in Ihrem Buch zur Entwicklung eines Kindes sagt. Sie hatte die Bereitschaft, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Sie „sich in dieser Freiheit entsprechend Ihrer eigenen Anlagen verwirklichen konnten“: Sie traf die Entscheidung, ihren Beruf hinter sich zu lassen, weil sie sich „nicht um eine Funktion bringen wollte, die in ihren Augen noch heiliger ist: die der Elternschaft.“ Wie gelang es Ihrer Mutter, so bewusst ihre mütterliche Kompetenz zu leben, wo doch in der gesamten westlichen Kultur mütterliche Werte immer mehr abgewertet wurden?
Meine Mutter hat ihren Beruf nicht „wegen den Kindern“ aufgegeben. Sie hat es für sich selbst getan, weil sie die Kindheit ihrer Kinder nicht verpassen wollte. Um dabei zu sein, nicht, um sich um uns zu kümmern, denn so sehr musste sie sich gar nicht um uns kümmern. Sie hat sich also nicht „aufgeopfert“. Aber sie hatte die Freiheit, für ihre Kinder da zu sein. Meine Mutter und mein Vater haben sich ihren Alltag gemeinsam organisiert. Wir waren nicht wohlhabend. Priorität hatte bei uns, die Möglichkeit des Zusammenseins. Heute arbeitet sie zusammen mit meinem Vater und sie ist für die Familie da. Und jetzt haben wir ja ein sehr kleines Kind – das ist das Kind einer ganzen Sippe. Für mich ist es ein ganz wunderbares Gefühl, in so einer Familie zu sein. Ich habe mich auch nie aus meiner Familie lösen müssen, wie man das oft von Kindern in der Pubertät hört. Dass man da Krisen durchlebt, sonst ist man nicht normal. Das alles kenne ich nicht. Aber für mich aus einem gut erklärbaren Grund: Ich musste mir keine Freiheit erkämpfen, ich hatte sie schon immer. Ich musste nicht darum kämpfen, ernst genommen zu werden. Das wurde ich schon immer. Ich musste nicht um Aufmerksamkeit kämpfen, die hatte ich schon immer.
 
Die „Sippe“, die Sie beschreiben, ist ein großer Unterschied zu den immer mehr zerfallenden Familien in westlichen Kulturen. Sie erinnert mich an die Clans der noch heute existierenden matriarchalen Völker wie zum Beispiel den indischen Kasi. Ihre Familie ist ein Beispiel, dass das auch hier in Westeuropa möglich ist?
Ich bin ganz Ihrer Meinung. Vielleicht regt mein Buch manche Mütter und Väter auch dazu an, ihren Alltag neu zu erfinden. Denn man muss nicht soviel arbeiten. Wir mussten uns keinen teuren Urlaub leisten, weil uns der Alltag nicht so erschöpft hat.
 
Herr Stern, ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch und dafür, dass Sie Ihre ermutigenden Visionen mit uns teilen. 

Weitere Informationen finden Sie unter www.andrestern.com
Das Buch von André Stern „Und ich war nie in der Schule. Geschichte eines glücklichen Kindes“ ist im Zabert Sandmann Verlag erschienen.
UF/Fotos: mit freundlicher Genehmigung von André Stern