Willkommen für Mütter?

„Wo Hilfe drauf steht, ist oftmals keine Hilfe drin.“ Dieser Satz aus einer Selbsthilfegruppe beschreibt, was Mütter in Ämtern erleben. Claire Daniels sprach mit Betroffenen über ihre Erfahrungen mit Hartz 4 und berichtet über ein zutiefst verstörendes, krankmachendes Sozialsystem.

 

In der Gesellschaft und Politik ist immer noch nicht angekommen, dass Mutter ein Beruf ist. Mütter arbeiten, auch wenn sie nicht in einem auf Männer zugeschnittenen Arbeitsplatz außer Haus tätig sind. Ein Einkommen für Mütter ist dennoch nirgends in Sicht. In Deutschland wurde inzwischen sogar der Unterhalt für Kinder betreuende Mütter nach einer Scheidung ab dem dritten Lebensjahr des Kindes gestrichen. Eine realitätsferne Politik geht davon aus, dass Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arbeitsmarkt willkommen sind und die doppelte Belastung locker stemmen können. Dass dies nicht so ist, zeigt die Armutsstatistik, in der die alleinsorgenden Mütter einen Großteil derjenigen ausmachen, die Sozialleistungen aus dem ALG II benötigen. In der Folge gibt es im „reichen Export- und Wachstumsweltmeister Deutschland“ Millionen arme Frauen und Kinder. Deren Kindergeld wird ihren Müttern von den Jobcentern als Einkommen angerechnet, was bedeutet, von den der Bedarfsgemeinschaft zustehenden Leistungen abgezogen. Sogar, wenn die Kinder das 18. Lebensjahr und die Volljährigkeit erreicht haben und damit aus der Bedarfsgemeinschaft herausfallen und fortan keine Leistungen mehr bekommen. Um ihr Kindergeld behalten zu dürfen, müssen sie tatsächlich aus der gemeinsamen Wohnung mit der Mutter ausziehen. 

 

Hilfebedürftige Mütter werden im Sozialamt nicht für ihre Leistung anerkannt und schon gar nicht willkommen geheißen. Das Antragsverfahren gleicht eher der Durchleuchtung bei Strafverdacht. Hilfe beim Ausfüllen, Beratung, was der Mutter und ihrem Kind zusteht – Fehlanzeige. Dafür erfährt sie sehr schnell, was ihre Mitwirkungspflicht bedeutet: Neuantrag, Formular Kosten der Unterkunft, Formular Vermögen, Formular EKS. Die dazu verlangten Nachweise machen schon mal über hundert Kopien aus. Eine Mutter berichtet, dass sie für einen rückwirkenden Zeitraum 120 Formularseiten mit Berechnungen ausfüllen musste. Wer sich hier kein Formular aus dem Internet holen und es online bearbeiten kann, ist noch ärmer dran. Datenschutz, Persönlichkeits- und Grundrechte oder Privatsphäre spielen bei alldem keine Rolle. Die Akte mit sämtlichen privaten Unterlagen der Familie wandern im Amt dann von einer Hand zur anderen. Die Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter in den Leistungsabteilungen wechseln häufig. Auch die zuständige Arbeitsvermittlerin kennt die Akte, obwohl sie eine ganz andere Aufgabe hat. Eine, die nur unwesentlich älter ist als die eigene Tochter, erklärt da einer erfahrenen Familienmanagerin schon mal, welche Druckmittel sie gegen sie hat –  Kürzung bis hin zur Streichung der Leistungen -, falls diese eine (eigentlich rechtswidrige) Eingliederungsvereinbarung nicht unterschreiben würde. Götz Werner, Pionier des bedingungslosen Grundeinkommens, bezeichnet Hartz 4 als „offenen Strafvollzug“, da es mindestens vier Grundrechte einschränkt - „die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Freiheit der Berufswahl, die freie Wohnungswahl und das Verbot der Zwangsarbeit“ (Einkommen für alle).

 

Ist die „Hilfebedürftigkeit“ endlich nachgewiesen, fließt nicht unbedingt auf Dauer zuverlässig Geld aufs Konto. Bewilligungsbescheide werden nur noch vorläufig ausgestellt, so dass alle sechs oder zwölf Monate ein Antrag mit Offenlegung sämtlicher Kontoauszüge erneut gestellt werden muss. Das bedeutet, nach ein paar Monaten fängt frau wieder von vorne an. Und zittert wieder, ob das Geld bewilligt wird und dann auch rechtzeitig eintrifft, wenn sie es braucht. Mütter müssen oft Monate lang auf das „sichere Geld“ und den Bewilligungsbescheid warten. Den brauchen sie auch, um bei der Tafel einkaufen zu können. Und für die Krankenversicherung, die sich nach einem Monat nicht bezahlter Beiträge meldet. Dann ist der Versicherungsstatus von Mutter und Kind ungeklärt. Warten müssen auch Familien, die den Zeitraum nicht mit einem „Schonvermögen“ überbrücken können. Doch seit es vom Jobcenter keine Geldleistungen mehr für einen kaputten Herd gibt, sollte die eiserne Reserve eigentlich nicht dazu dienen, um lange Bearbeitungszeiten aufzufangen. Ohne die Unterstützung mit Lebensmitteln durch die Tafeln ist in Deutschland Hungern durchaus möglich. Wie die ehemals selbst betroffene Autorin und Schauspielerin Bettina Kenter-Götte sagt, sind „900 deutsche Restetische für Arme ein Skandal“ (HARTZ IV oder Heart’s Fear). Da aber auch bei den Tafeln der Bewilligungsbescheid erforderlich ist, muss sich eine wartende Mutter fragen: Was essen wir, wenn der Bescheid Monate lang nicht kommt?
 

Denjenigen, die in ihrem Leben auch sonst keine Sicherheit mehr haben, bietet das aktuelle Sozialhilfesystem keine Rechtssicherheit. Trotz vieler Paragraphen in den verschiedenen Sozialgesetzbüchern liegt jede Entscheidung im Ermessen der jeweiligen Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter. Diese wechseln ständig, damit keine persönliche Beziehung zu den ihnen zugeteilten „Fällen“ entsteht. Was also die oder der eine anerkannte, kann die andere wieder streichen. Zum Beispiel, ob die Beiträge für eine Lebensversicherung als private Altersvorsorge bei einer geringfügig selbstständig tätigen „Aufstockerin“ bei ihren Ausgaben berücksichtigt werden. Und dies, obwohl im Sozialgesetzbuch eindeutig geregelt ist, dass Aufwendungen für die private Altersvorsorge anerkannt werden müssen. Auch ob die private Altersvorsorge der „Aufstockerin“, die einem freien Beruf angehört und daher nicht in die Rentenversicherung einbezahlt, als geschütztes Vermögen anzuerkennen ist,. Dies ist zwar im Sozialgesetzbuch geregelt (§ 12 Abs. 3, Satz 1 Nr. 3 SGB II), doch das Jobcenter hält sie mit einer langwierigen, das langwierigen Überprüfung hin und stellt erst einmal die monatlichen Zahlungen ein. Welche sich nicht auskennt oder aufgrund von Kinderbetreuung und anderen Alltagsanforderungen keine Zeit oder die nötigen Kenntnisse für eine Überprüfung der Bescheide hat, braucht Hilfe von Beratungsstellen, wenn sie Widerspruch einlegen muss. Oder sie hat eben Pech. „Die Ohnmacht der Schwachen“, nennt Bettina Kenter-Götte das „Bitterste“ an Hartz 4. 

 

Sind die Kinder dann erwachsen, wird die neue Lebenssituation der Mutter überprüft. Sie lebt nun allein in der Wohnung? War sie während der vielen Jahre, die sie den Kindern gewidmet hat, keine willkommene Heiratskandidatin? Vormittags klingelt es an ihrer Tür. Unangemeldet verlangen zwei unfreundliche Sozialamt-Detektive Zutritt zu ihren Räumen. Sie blicken die vermeintliche „Sozialschmarotzerin“ voreingenommen und abschätzig an: Sie müsse sie ja nicht hereinlassen, aber dann kämen sie eben mit einem Durchsuchungsbeschluss wieder. Sie schauen sogar in die Schränke, ob sich darin tatsächlich nur Damenbekleidung befindet. Die Stasi-Version 2.0 des Westens lässt grüßen. 

 

Wo also Hilfe zum Leben sein sollte, lauert stattdessen die ständige Bedrohung der Existenz. Hilfebedürftige Mütter stehen unter Generalverdacht, sich Sozialleistungen zu erschleichen. Es reicht nicht, jeden Kontoauszug offen zu legen. Eine Bafin-Abfrage soll sicherstellen, dass „Sie kein verstecktes Vermögen oder Konten im Ausland haben“ (O-Ton einer Jobcenter-Angestellten zu einer alleinerziehenden Mutter, die wegen einer Firmenauflösung ihren Job verloren hat). Sie wird pro forma wie eine Kriminelle behandelt. Die Bevölkerung, die sich eine Willkommenskultur für Fremde auf die Fahne schreibt, sieht größtenteils einfach zu, wie die Mütter im eigenen Land erniedrigt und gequält werden. Für sie gibt es keine Lobby. „Die Spuren der Entrechtung, die Spuren der Entwürdigung – ob ich sie je wieder loswerde?“ fragt Bettina Kenter-Götte zu Recht, denn Hartz 4 hat schwere Konsequenzen für die Betroffenen, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Es greift die physische und psychische Gesundheit an: „Irgendwann bist du so erschöpft von der ständigen Mitwirkungspflicht und dem ständigen Überlebenskampf, dass du gar keinen Kopf und keine Kraft mehr dafür hast, dir zu überlegen, wie du da wieder raus kommst.“ Geschweige denn Zeit, dich in Ruhe nach einem Job oder einer guten Lösung für die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit umzusehen. Vielmehr verursachen die ständige Angst, der Dauerstress, die Bespitzelung und Durchleuchtung und die Hilflosigkeit eine enorme zusätzliche Belastung, die zu Depressionen, Schlaf- und Angststörungen führen kann. Irgendwann ist die beste Resilienz aufgezehrt. Die Situation von Harzt 4-Empfängerinnen und -Empfängern entspricht der Erfahrung der Depression, die Peter Sloterdijk beschrieben hat: „Die Wände sind so nahe gerückt, dass sinnvolle Bewegungen in dem von ihnen gezogenen Bereich unmöglich sind. (…) Der Raum zieht sich für (den Deprimierten) immer enger zusammen“ (Sphären II). 

 

Was können wir tun?    

Hartz 4 führt zu Ausgrenzung. Eine Mutter wurde vom eigenen Bruder diffamiert: „Faulheit wird auch noch belohnt.“ Bettina Kenter-Götte bittet Nicht-Betroffene: „Glauben Sie nicht, was in den Medien über „Hartzer“ verbreitet wird und widersprechen Sie, wenn Mitmenschen über „Hartzer“ herziehen.“ Keine Mutter geht freiwillig zum Sozialbürgerhaus, sprich Jobcenter. Stellen Sie sich als Ämterbegleiterin oder -begleiter zur Verfügung und gehen Sie mit zu Terminen im Jobcenter, damit Betroffene Rückenstärkung und eine Zeugin oder einen Zeugen haben. Setzen Sie sich ein für ein wirklich "bedingungsloses" Grundeinkommen, das gleichzeitig auch auch ein Mütter-Einkommen bedeutet, das deren Existenz wirklich und dauerhaft sichert, auch im Alter. Wie Götz Werner zum bedingungslosen Grundeinkommen erklärt, würde dies wegführen „von der Sorge um den Arbeitsplatz und Einkommen, hin zum sozialen Sinn von Arbeit“. Mütter könnten endlich in Ruhe Mutter sein und für sich und ihre Kinder sorgen. Claudia Cornelsen und Michael Bohmeyer berichten über das Bedingungslosigkeits-Gefühl eines Grundeinkommens, „wenn Menschen sich willkommen fühlen und unbeschränkt, dann entsteht Lust, das Leben in die Hand zu nehmen“ (Was würdest Du tun? Wie uns das bedingungslose Grundeinkommen verändert). Sie räumen auf mit dem Klischee von der sozialen Hängematte und befreien damit hilfebedürftige Menschen von ihrem Stigma.

Treten Sie für einen Paradigmenwechsel ein, indem Sie im matriarchalen Sinne „Mutterschaft als politische und ökonomische Kategorie begreifen“, wie Mariam Irene Tazi-Preve über die Bedeutung der Mutter für die Gesellschaft schreibt (Das Versagen der Kleinfamilie). Sie erklärt Mutterschaft als „Prinzip der Fürsorge – für die Nachkommen, für die Natur und das Wohlergehen der einzelnen und aller Mitmenschen“. Gründen Sie neue Lebensmodelle wie zum Beispiel matriarchale Wahlgemeinschaften. Und vor allem: Heißen Sie Mütter und Mutterschaft willkommen!

 

Zum Schutz der Frauen, von deren Erfahrungen hier berichtet wird, bleiben sie anonym. Sie sind der Redaktion bekannt, Unterlagen wurden eingesehen.  

Lesetipps

Claudia Cornelsen, Michael Bohmeyer: Was würdest Du tun? Wie uns das Bedingungslose Grundeinkommen verändert

288 Seiten, Klappenbroschur, erschienen Januar 2019, Econ Verlag, ISBN 9783430210072

 

Per Crowdfunding sammelte Michael Bohmeyer Geld, das er seit 2014 an über 250 Menschen als Grundeinkommen verloste – ein Jahr lang 1.000 Euro im Monat, bedingungslos. Claudia Cornelsen und Michael Bohmeyer haben Gewinnerinnen und Gewinner besucht und berichten, wie das „Grundeinkommensgefühl“ ihnen Sicherheit schenkt, ihre Gesundheit und ihren Selbstwert stärkt, wie sie zu sich und einem zu ihnen passenden Beruf finden. Michael Bohmeyer und Claudia Cornelsen stellen genau die richtigen Fragen, setzen sich auch mit unbequemen Gegenargumenten und mit der Geldideologie des westlichen patriarchalen Kapitalismus auseinander, mit Neid, Missgunst und mangelnder Selbstfürsorge. Ihre Begegnungen sind authentisch und ehrlich, ihre Schlussfolgerungen überzeugend. Das Buch belegt die These des Vordenkers des bedingungslosen Grundeinkommens, Götz Werner, das Grundeinkommen könne eine neue Menschheitskultur hervorbringen. Es macht Millionen Menschen, die sich im täglichen Existenzkampf aufreiben, Hoffnung. Mütter könnten wieder in Ruhe und ihre Kinder selbst großziehen und zu einem für alle guten Zeitpunkt und Umfang außerhalb arbeiten. Ein Grundeinkommen kann den Weg zu einer Gesellschaft bereiten, die sich an matriarchalen Werten orientiert, bei denen ein gutes Leben für alle einschließlich der Natur, Nachhaltigkeit, Verantwortung und Fürsorge für die Gemeinschaft im Vordergrund stehen. Die Lektüre regt zur Vision an, was weltweit geschehen könnte, wenn alle Menschen mit einer gesicherten materiellen Basis ausgestattet wären - Grundeinkommen statt Entwicklungshilfe? Auch da gab es ähnliche und ebenso erfolgreiche Experimente.  

Bettina Kenter-Götte: Hartz IV oder Heart's Fear? Geschichten von einem Armuts- und Ausgrenzungsgesetz

184 Seiten, Taschenbuch, erschienen 2018, Verlag Neuer Weg, ISBN 9783880214941

Erfahrungsbericht und „eine Gegenstimme gegen die unerträglichen immer-noch-hartzfreundlichen Lobhudeleien". Bettina Kenter-Götte ist Schauspielerin, alleinerziehende Mutter, und Autorin mit vielen Auszeichnungen.

 

Götz W. Werner: Einkommen für alle. Bedingungsloses Grundeinkommen - die Zeit ist reif

304 Seiten, Klappenbroschur, erschienen 2018, Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 9783462051087

In der überarbeiteten, aktualisierten und erweiterten Neuausgabe begründet Götz Werner, der Gründer von dm, warum die Zeit für die Einführung des Grundeinkommens reif ist – und den künftigen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt nicht anders begegnet werden kann.

 

Mariam Irene Tazi-Preve: Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat

225 Seiten, kartoniert, 2. Auflage 2018, Barbara Budrich Verlag, ISBN 9783847421962

Als Schlussfolgerung aus den (Miss-)Verhältnissen des herrschenden Familienideals zeigt die Autorin Alternativen auf, die matriarchale Gesellschaften uns bereits vorleben.

 

CD/UF/Fotos: CF/mit freundlicher Genehmigung von Verlag Barbara Budrich GmbH, Mediengruppe Neuer Weg GmbH, Ullstein Buchverlage GmbH, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG