Die Zukunft der elf Töchter!

Elf Töchter wachsen in meiner Familie, meiner Sippe, heran. Elf Töchter, die jetzt zwischen 18 Jahren und 3 Monaten jung sind. Wie wird das Morgen dieser Töchter sein? Wie wird die Zukunft all unserer Töchter sein? Das ist derzeit das Einzige, was mich wirklich interessiert und für das ich arbeite, schreibe, denke und fühle. Eine Betrachtung von Stephanie Ursula Gogolin

 

Diese elf Enkeltöchter und ein Enkelsohn sind die Nachkommen meiner vier Kinder. Zwei davon sind die Töchter meiner Schwiegertochter. Vier von diesen Elf leben als Schwestern in einem Haushalt zusammen und die Älteste von ihnen geht demnächst aus dem Haus – für ein Jahr - dann auch richtig weit weg - als Au-Pair – das ist der Plan. Wie der Sohn verlässt heutzutage auch die Tochter ganz selbstverständlich das Elternhaus, nabelt sich ab, lockert Bindungen, trennt sich von ihrer Herkunft: sozial, räumlich, gefühlsmäßig.

 

Der Schulabschluss bildet in der Regel auch den Abschluss der Kindheit - so sind wir es gewohnt und so wird derzeit die Zukunft all unserer Töchter modelliert. Ebenso wie die Förderung der Söhne ist es für uns erstrebenswert, der Tochter zu einem guten Start ins Erwachsenenleben zu verhelfen. Dabei ist das Ziel, dass eine Tochter in Freiheit ihr Potential voll ausschöpfen kann und ihre Zeit selbstbestimmt verlebt. So weit so gut, wenn da nicht die Mechanismen der „Entfremdung“ wären. Unsere heranwachsenden Kinder werden von uns und den Steilvorlagen der Gesellschaft in dem penibel entwickelten und gut etablierten kollektiven und persönlichen Distanztraining auf ein autonomes Leben als vereinzelte Erwachsene vorbereitet. Der einst sozial in Nähe gebundene Mensch geht zu seinen Angehörigen immer mehr auf Abstand. Fast unmerklich fand ab der Kindheit eine sukzessive Distanzierung von der Mutter, vom Vater, von den konsanguinen (durch Geburt in mütterlicher Linie verwandt) Angehörigen und hier insbesondere von den weiblichen statt. Schwestern, Großmüttern, Muhmen und Basen spielen im Leben einer jungen Frau kaum noch eine Rolle. Bindungsgefühle sehen viele nur noch als eine märchenhafte Idylle an, die jedoch in der Moderne nicht wirklich stattfinden sollte.

 

Die junge Frau, so auch meine Enkeltochter, verlässt also ihre Herkunftsfamilie, den bisherigen Hort der sozialen Akzeptanz und strebt die nächste Stufe der Ausbildung an: Distanz von heimischer Geborgenheit. Hieß es bei Schiller noch „...der Mann muss hinaus ins feindliche Leben“, so gilt das heute auch für jedefrau. Es ist der übliche Schritt ins Erwachsenwerden. Dieser Schritt geht hin zu einer beruflichen Karriere, die ihr auch den späteren Lebensunterhalt sichern soll. Damit steigt sie ein in das gnadenlose Konkurrenzsystem des hierarchisch strukturierten Wirtschaftsgeschehens, dessen Basis das männliche Wettbewerbsbestreben ist. Auch für jede Tochter gilt in die Anonymität der Gesellschaft einzutreten und zum Beispiel auf beruflicher Ebene von ihren männlichen Mitstreitern anerkannt und gleichzeitig als eventuelle Lebens- oder Sexualpartnerin bemerkt zu werden. Sie ist bereit die sozialen Bindungen ihrer Kinderzeit hinter sich zu lassen. Stattdessen geht sie Beziehungen mit bis dato Unbekannten ein und wird so zu einem Teil der großen Singlebörse, die unsere Gesellschaft auf einer ihrer Metaebenen darstellt. 

Ausschließlichkeit der Paarbeziehung

Diese Form der abschließenden externen Reifung unserer jungen Menschen wird heutzutage als „natürlicher Entwicklungsschritt“ angesehen und entspricht inzwischen der Vorstellung einer modernen emanzipierten Gesellschaft. War es vor ein paar Jahrzehnten noch Standard, dass die braven Mädchen „zu Hause warteten“, bis sie geheiratet wurden, liegt heute ihre Lebensgestaltung weitgehend in den eigenen Händen. Und das ist einerseits gut so (da noch reichlich Unterdrückung der Frau vorhanden ist). Anderseits bleibt damit ein wesentliches Kriterium der Patriarchose nicht nur erhalten, sondern wird auch noch nachdrücklich kultiviert - die Ausschließlichkeit der Paarbeziehung als soziale Lebensgestaltung.Daher kennzeichnet den derzeitigen konventionellen Weg einer jungen Frau das Bestreben, Teil eines (romantischen) Paares zu werden. Mit dem Liebes- und Sexualpartner wird die Grundlage für eine abgeschottete Kleinfamilie gelegt.

 

Unsere Kultur ist eine „Pärchenkultur“ - unter Ausschluss anderer Angehöriger und ohne den fürsorgenden   generationsübergreifenden Aspekt. Das autark lebende Paar ist die angestrebte Lebensbasis eines mündigen Erwachsenen-Daseins. Das reife Leben wird danach bemessen ob frau / mann in einer intakten Paarbeziehung lebt oder sich in der Davor- bzw. Danachphase befindet. Die einzige (immer kürzer werdende) Zeit, in der wir uns in den Relikten einer Sippe aufhalten, ist unsere Kindheit. In dieser Phase findet noch ein fast natürliches Leben statt: das Bindungserleben in Bezug auf die Mutterund im Idealfall zu weiteren konsanguinen Angehörigen.

 

Das Paar, die kleinste mögliche soziale Einheit, ist der Taktgeber unserer Gesellschaft. Es ist vielleicht nicht mehr so offensichtlich, aber immer noch wird die Tochter durch den derzeit herrschenden Elterngeist für einen zukünftigen Lebensgefährten (einst explizit Ehemann) aufgezogen. Ihre Freiheit, entscheiden zu können mit welchem Fremden sie sich eines Tages dauerhaft oder fluktuierend zusammentut, hat sich sogar in unseren Gesetzen niedergeschlagen und läuft auf das Muss einer (sexuellen) Liebesbeziehung hinaus, welche auch die wirtschaftliche Grundlage der Minigemeinschaft stabilisieren soll. Die Subventionierung der Ehe und anderer auf Dauer angelegten Zweierbeziehungen ist unserer Gesellschaft immer noch weit mehr wert als die Förderung einer artgerechten Angehörigengemeinschaft im Interesse unserer Kinder.

Aber was bedeutet das für unsere Töchter? Mit der Forderung nach der Paarbeziehung geht auch eine nicht immer sichtbare Forderung nach Zurückweisung der Herkunftsangehörigen einher. Es ist bis jetzt für die Durchschnittsfrau eines der höchsten Ziele sich mit einem (fremden) Mann zu verbinden und mit ihm die berühmte „eigene kleine Familie“ zu gründen. Und das bedeutet auch: Töchter verlassen ihre Mütter! Nun werden viele denken: ... das ist doch ganz normal! Es ist wohl „normal“, aber eigentlich weder natürlich noch artgerecht, nur ein trauriger Effekt des Patriarchats.

Bindungserleben in Bezug auf die Mutter
Mütter und (erwachsene) Töchter haben dereinst Hand in Hand den Alltag bewältigt. Heute denken wir in den modernen Arbeit-Freizeit-Kategorien. Erwachsene leisten Erwerbsarbeit, möglichst außer Haus. In der mehr oder weniger knapp bemessenen Freizeit findet das Familienleben statt. Hier muss dann Qualitätszeit mit den Kindern verbracht werden, da sich diese parallel zu der Erwerbsarbeit ihrer Eltern in den etablierten Betreuungs- und Bildungseinrichtungen aufhalten. Auf diese Weise trainieren wir so früh wie möglich die längst beschlossene soziale Abnabelung unseres eigenen Nachwuchses. Unsere Töchter und Söhne genießen während ihres Aufenthaltes in der Familie so eine Art Wohnrecht auf Zeit. Sie sind als Kinder ihrem Elternpaar zugehörig und nehmen gleichzeitig auf dem Schleudersitz Platz, der sie in ihr späteres Leben katapultiert. Die Familie als Durchgangszimmer und in verschiedenen Variationen - von trauter Kleinfamilien-Idylle bis hin zum Patchwork-Desaster. Wir haben uns an diese „Normalität“ gewöhnt und ebenso daran, dass es in all diesen Spielarten nie die mütterliche Versicherung geben darf: Du, meine Tochter, bleibst für immer mit mir, deiner Mutter, verbunden! 

 

Eine solche Bekundung und der eindeutige Hinweis auf die mütterliche Herkunftsbindung würde nicht nur den tradierten patriarchösen Vorgaben unserer Gesellschaft zuwiderlaufen, die meisten Frauen kämen sich wahrscheinlich dabei „komisch“ vor. Es ist heute selbstverständlich, dass Töchter die tiefen Gefühle ihrer dauerhaften Zuneigung für den großen Unbekannten zu reservieren haben. Und so scheuen Müttern sich davor zuzugeben: Ich fühle immer wieder Wehmut bis hin zu einem großen Schmerz über die anstehenden kleinen und großen Trennungen von meiner Tochter. Dieser heimliche Schmerz der Mutter ist nicht nur kein Thema, sie soll deswegen sogar ein schlechtes Gewissen haben. Die Tochter loszulassen ist, seit ihrer Geburt, immer wieder das insistierte Gebot. Aber sind wir heutigen Mütter, die schon so viel durchschaut haben, tatsächlich immer noch freudig bereit, die Tochter auf dem Altar des Patriarchats zu opfern? Und ist es nicht überwältigend, wenn das Gefühl der natürlichen Verbundenheit mit den Töchtern das Mutterherz ausfüllt? Ahnen wir, nein, wissen wir nicht, dass Mutter und Tochter eigentlich zusammengehören und die derzeitige Praxis irgendwie nicht richtig ist?


Doch Mütter werden beschwichtigt und nehmen überall wahr: alles halb so wild! Ein Aufmerksamkeit fordernder Lebenspartner, die noch in der Häuslichkeit verbliebenen anderen Kinder, die Erwerbstätigkeit, ein reichhaltiger Freundeskreis oder freizeitfüllende Hobbys können die hinterbliebene Mutter von ihrem nicht mehr als zeitgemäß angesehenen Schmerz ablenken. Und außerdem ist heutzutage das Kind auch in Amerika nicht aus der Welt. Wozu gibt es Internet und Skype? Der Trost für sie ist die allseits präsente, patriarchale Verheißung, jetzt wo die Kinder endlich aus dem Haus sind, wieder das „eigen Leben“ führen zu können. Der Druck ist raus, das ständige Sich-Kümmern-Müssen vorbei, das „Für alles verantwortlich  sein“ fällt weg. Das verwaiste Elternpaar kann sich wieder ganz seiner Innigkeit als Paar zuwenden oder die Alleinerziehende sich in Ruhe nach einem neuen Lebenspartner umsehen. Aber wird diese neu gewonnene Freiheit (mit dem bitteren Nachgeschmack) auch weidlich genutzt? Oder ist das eben doch noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Leben wir denn nicht immer unser eigenes Leben - mit und ohne Kinder, mit und ohne einen Lebenspartner, mit und ohne unsere Herkunftssippe? Und sollten uns unsere Kinder nicht natürlicherweise zu jeder Zeit näher sein als ein Partner, der heutzutage immer seltener einer fürs ganze Leben ist?
 

Dogma der Moderne
Der Ausschluss der Herkunftssippe, um sich ganz auf den Lebenspartner zu konzentrieren, ist ein Dogma unserer Moderne. Das „biologische Pflichtprogramm“, Kinder in diese Welt zu setzen, wird zwar im derzeitigen Stadium der Patriarchose als Notwendigkeit toleriert, jedoch das Heranwachsen der Kinder im Kleinfamilienmilieu wird in der Regel nur als Intermezzo im Leben eines Paares angesehen. Dem, in sein „eigenes Leben“ gehenden Nachwuchs, ist quasi keine Träne nachzuweinen. Aber Mütter trauern trotzdem und das ist, meiner Meinung nach, die natürliche Reaktion auf den „Verlust“ eines Kindes, eines allernächsten Angehörigen, mit dem wir bisher innig unser Leben teilten. Als Menschen besitzen wir einen Drang nach Zugehörigkeit und beziehen darauf und daraus unsere Identität. Sich immer wieder und auf Dauer von unseren nahestehenden Angehörigen zu trennen, ist so gar keine artgerechte Verhaltensweise.

Jetzt wird vielleicht doch manche fragen, ob ich das hier nicht zu sehr dramatisiere? Klar, studieren heute die jungen Leute in einer anderen Stadt oder erkunden das andere Ende der Welt, das ist doch ganz normal. Sie nehmen sich eine eigene Wohnung, machen eine Ausbildung und bringen noch eine Zeitlang die Wäsche nach Hause. Sie sind voll von neuen Eindrücken, Plänen und Visionen und was sie manchmal so treiben, erfüllt eine Mutter nicht immer nur mit Gelassenheit. Sie sind mit ihrem eigenen Leben so beschäftigt, dass sie das Land der Kindheit vorerst scheinbar vergessen. Die Tochter (der Sohn) tritt abrupt oder driftet langsam aus der bisherigen Gemeinsamkeit hinaus. Und das Band ist durchtrennt. Gaben in der jüngeren Vergangenheit die Mütter ihre Töchter erst bei der Verheiratung her, besteht heute in den Köpfen der Mütter die latente Forderung nach Loslassen und Ablösen oft schon bei der Geburt des Kindes. Zudem wird die Aufzucht unseres Nachwuchses, wie vieles andere auch, unter die Munt (Vorläufer des Betreuungsrechts) einer anonymen Gesellschaft gestellt. Eigentlich eine unmenschliche Forderung. Eine andauernde natürliche Bindung wird durch den bestehenden Mainstream zur Schädlichkeit erklärt. Schließlich soll das heranwachsende Menschlein von Beginn an auf sein erwachsenes autonomes, flexibel im Sinne der Wirtschaft und letztlich angehörigenfreies Leben in unserer Gesellschaft vorbereitet werden. Ich meine das nicht polemisch ... es ist leider so!
Artgerecht Zusammenleben
Wir sollten wieder mehr auf unsere Intuition, auf unsere Sinnlichkeit, auf unser inneres Ahnen hören.Denn wie frei bin ich wirklich, wenn für mich als Tochter die einzigen Leitplanken immer noch die maskulinen Interessen und das patriarchöse Traditionsgefüge sind? Und wie glücklich ist mein Muttersein, wenn die natürlichen Bindungen missachtet werden sollen und für mich kein lebbares Großmuttersein vorgesehen ist? Lassen wir also den Trennungsschmerz zu, gehen wir noch einen Schritt weiter und sehen ihn nicht mehr als Tabu an, sondern als eine oktroyierte Zumutung. Sprechen wir, am besten laut und deutlich und ganz selbstverständlich darüber, dass unsere Tochter, unser Sohn, die wichtigsten Menschen in unserem Leben sind. Auch dann noch, wenn sie schon erwachsen sind und nicht mehr mit uns unter einem Dach leben. Um das Bestehende zu wandeln, sollten wir Kante zeigen, wie eine Freundin immer sagt. Das bedeutet nicht still und leise leiden, sondern das Bekenntnis der Verbundenheit unseres töchterlichen, mütterlichen und großmütterlichen Seins bis ans Ende unserer Tage sichtbar machen. Meine eingangs erwähnten elf (Enkel)Töchter wachsen in eine Welt hinein, die sich noch nicht wesentlich gewandelt hat, aber sie erfahren zumindest, im Gegensatz zu mir, schon in ihrer Kindheit, dass Mütter, Töchter, Großmütter zusammengehören und sich in Liebe zugetan sein dürfen. Das generationsübergreifende Zusammenleben in mütterlicher Linie ist eigentlich der artgerechte Zustand für alle Menschen. Und da sie das alles immer noch nicht in der Schule lernen, erfahren sie es von ihren Müttern und von mir... 

Mehr von Stephanie Ursula Gogolin finden Sie hier.
 
Fotos: Portrait: Stephanie Gogolin; Natur: CG