Zum Stichtag 1. März 2018 waren laut Statistischem Bundesamt 33,6 Prozent der unter 3-jährigen Kinder in Fremdbetreuung. Angestrebt ist eine Betreuungsquote von 35 Prozent auf insgesamt 750.000 Krippenplätze in Deutschland.
Gita erzählt uns von ihrem Probearbeitstag in der Kinderkrippe: „Die Gruppen der Allerkleinsten im Alter von sechs Monaten bis drei Jahre haben niedliche Namen. In der „Mäusegruppe“ lernte ich
den 2jährigen Amadeo kennen. Seine Mutter will einen Schulabschluss nachholen und liefert ihn jeden Morgen ab. Hier ist von 7 Uhr morgens an sein „Zuhause“, in dem er seine Weltwahrnehmung
entwickelt und leben lernt - ohne Mama, ohne vertraute Räume, ohne seine eigenen Spielsachen, ohne organischen und natürlichen Alltagsablauf." Der kleine Amadeo wird von Fremden betreut in einer
fremden Umgebung, die aus hygienischen Gründen pflegeleicht und steril gestaltet ist, und dennoch bekommt er mehr fremde Keime ab als daheim. Sein Tag folgt einer an den Arbeitszeiten der
Erzieherinnen und den Lieferzeiten der Großküche angepassten Routine.
Amedeo hat einige Überlebensstrategien entwickelt. Eine davon besteht darin, sich vorzudrängen. Besonders die körperlich unterlegenen Kinder schubst er aus dem Weg, wo immer sie ihn kreuzen. Die Spielecke beherrscht er allein. Als Gita sich dort auf den Boden setzt, um mit den Kindern zu bauen, klettert er auf ihren Schoß, den er fortan vor anderen besetzt hält. Eine der Betreuerinnen meint, es sei ein gutes Zeichen, dass er gleich Vertrauen zu ihr fasst. Aber Gita sieht es anders: „Er hat seine natürlichen Schutzinstinkte vor Fremden bereits verloren. Es ist nicht natürlich, dass sich ein zweijähriges Kind so schnell auf die körperliche Nähe eines fremden Menschen einlässt.“ Wir betrachten Fotos von einer Faschingsfeier in der Krippe. Die Kinder stecken in lustigen Kostümen, aber ihre Augen blicken traurig und leer in die Kamera. Auch eine noch so engagierte Krippenpädagogik kann das Trauma einer zu frühen Trennung von der Mutter nicht wieder gut machen. Auch wenn Kinder beim Abschied von der Mutter nicht mehr weinen und dies als „Eingewöhnung“ interpretiert wird, zeigt es in Wirklichkeit, dass das Kind resigniert hat.
Prof. Dr. Franz Ruppert, Psychotherapeut und Begründer der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie schildert, wie Kinder zum Trauma-Opfer werden, die in den ersten Lebensmonaten, "zu früh in eine Kinderkrippe gesteckt oder in eine Fremdbetreuung gegeben wurden, ohne Chance auf eine sichere Mutterbindung". Er zitiert aus einer Email einer Kinderkrippenleiterin, die vom Leid eines 10 Monate alten Babys in ihrer Einrichtung und unzähligen Geschichten berichtet, "wie Kinder leiden, und das tagtäglich". Sie bedankt sich für "den Mut, diese Dinge auszusprechen" (siehe in Franz Ruppert: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft).
Kinderkrippen und Ganztagsschulen gehen an den Grundbedürfnissen von Kindern und Müttern vorbei. Untersuchungen wollen uns glauben machen, Kinder kämen mit dieser Form von Kindheit bestens klar. Sigrid (35), Mutter von zwei Kindern, widerlegt das: „Ich finde die Vorstellung schrecklich, meine Kinder den ganzen Tag nicht zu sehen. Auch für die Kinder wäre das absolut nicht das, was sie brauchen. Für meine ältere Tochter ist es schon lang genug, wenn sie sechs Stunden in der Schule verbringen muss. Ich finde, niemandem darf die Ganztagsbetreuung aufgezwungen werden.“ Nach acht oder mehr Stunden Getrenntheit ist es kompliziert, die Verbundenheit zwischen Mutter und Kind wieder aufzunehmen. Beide sind müde, müssen aber noch einkaufen, Abend essen Hausaufgaben und Hausarbeit erledigen. Viel Zeit und Kraft für das gegenseitige Aufeinander-Einstimmen bleibt da nicht. Welche Fähigkeiten und welche Formen der Zuwendung unser Kind von uns braucht, wandelt sich ständig. Nur die anwesende Mutter kann spontan auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren.
Seit die Therapeutin Jean Liedloff 1977 in ihrem Buch „Die Suche nach dem verlorenen Glück“ beschrieben hat, dass ein Umfeld der sicheren Bindung und Kontinuität (das sog. „Kontinuum Konzept“) für ein Kind notwendig ist, damit sein gutes Gedeihen gewährleistet ist, hat die Bindungsforschung die Unersetzbarkeit der Mutter-Kind-Beziehung ständig weiter untermauert. Eine Fülle von Informationen dazu liefern Forscher und Psychotherapeuten wie Wilhelm und Eva Reich, John Bowlby, Steve Biddulph, Christa Meves oder Dr. med. Karl Heinz Brisch und Prof. Dr. Gerald Hüther, um nur einige zu nennen.
Dagmar, Mutter dreier Söhne, erzählt: „Durch meinen 12jährigen Sohn habe ich guten Kontakt zu jüngeren Müttern. Ich erlebe darunter viele, die lieber Vollzeit-Familienarbeit bei ihren eigenen Kindern leisten möchten, als diese Arbeit zu delegieren, um der politisch und gesellschaftlich diktierten Vereinbarkeit Folge zu leisten. Und ich sehe ihre Sorge und Verzweiflung bei der Frage, wie das in dem momentanen politischen Klima gehen soll. Von echter Wahlfreiheit kann hier nicht die Rede sein." Ganz besonders nicht nach der Reform des Unterhaltsrechts vom 01.01.2008, welche die Mütter dreijähriger Kinder in die Erwerbstätigkeit zwingt. Auch das „Gesetz zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege“ (KiföG), das am 7. November 2008 vom Bundestag verabschiedet wurde, steht im Widerspruch zum Grundgesetz (Art. 6, Abs. 2) und zur Kinderrechtskonvention (Art. 7). Daraus leitet sich das Recht des Kindes auf die Betreuung in seiner Familie ab
214 Seiten, broschiert, 3. Druckaufl. 2019, Klett-Cotta Verlag, ISBN 9783608962703
Der Trauma-Spezialist Franz Ruppert schildert, wie sich die Traumatisierung des einzelnen bis hin zur ganzen Gesellschaft auswirkt: „So wie es in unserer Psyche aussieht, so gestalten wir auch unsere Umwelt, die soziale wie die natürliche.“ Wodurch werden wir traumatisiert? Zum Beispiel durch fehlende Mütterlichkeit: "Wenn Menschen bereits in der Kindheit durch fehlende ausreichende Bemutterung traumatisiert werden, führt dies zu einer "lebenslangen inneren Not". Anhand der von ihm begründeten Anliegen-Methode zeigt der Psychotherapeut Franz Ruppert, wie ein Ausstieg aus der Täter-Opfer-Dynamik gelingen kann. Denn, so macht uns der Autor Hoffnung, die „gesunden psychischen Anteile des Menschen können wieder die Führung übernehmen, je schwächer die Täter und Opfer-Haltungen allmählich werden und die verleugneten Trauma-Realitäten ans Licht kommen dürfen“.
UF/Fotos: mit freundlicher Genehmigung von Verlag BOOKSUN Ltd.; J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH; Natur: CG